Musik und Sprache

"Musik und Sprache - Música y Palabras" fand im Berliner Ibero-amerikanischen Institut anlässlich des Welttages des Buches statt. Dabei wurde mit dem interkulturell und intermedial orientierten Ensemble Iberoamericano ein innovatives und kreatives Kollektiv junger Musiker gewonnen. Das international besetzte Kammerensemble mit Sitz in Weimar hat sich zum Ziel gesetzt, die klassische iberoamerikanische Musik des 20. und 21. Jahrhunderts zu fördern und dürfte in dieser Konstellation wohl weltweit ein einmaliges Projekt darstellen. […]

Ein "Hörbuch neuer iberoamerikanischer Musik" - so könnte man vielleicht das Berliner Konzert des Ensembles in wenigen Worten beschreiben. In kleinen Intermezzi wurde die Musik dabei durch Prosa und Lyrik beleuchtet, die teilweise in engen oder auch frei assoziativen Zusammenhängen zu den Kompositionen standen. Esther Morales Canadas - studierte Cembalistin, Schülerin von Nikolaus Harnoncourt und Cesar Bresgen, sowie Dozentin an der Universität in Jena - präsentierte einmal nachdenklich, dann wieder provozierend, aber stets eloquent die Texte von Chihuailef, Guillén oder Cortázar und konnte so subtil auf die semantischen Interaktionen aufmerksam machen, die auch der Musik "sprachlich" inne wohnen.

Sehr eindrucksvoll verdeutlichte dies bereits die erste Komposition von Ramón Gorigoitia für Alt, Klarinette, Violine, Cello und Klavier. "Indómito" (zu Deutsch "ungezähmt" oder "widerspenstig") ist ein hochexpressives Werk, das den Hörer im Saal direkt anspricht. "Dass ich nicht meine Hände verschränkt vor dem Körper halten werde..." heißt es provokant und selbstsicher im Text und auch die Musik zwingt sofort zu einer unmittelbaren Stellungnahme. Gorigoitia wollte in seiner Musik nicht nur die eigene Kindheit in Chile reflektieren, sondern auch an die Mapuche und deren Heimat im "blauen Land" erinnern. Seine Musik ist jedoch universell genug, um auch jenseits dieses konkreten Bezugs als kritisches Statement aufgefasst zu werden.

Jene politische Dimension, die viele iberoamerikanische Werke der Klassischen Moderne charakterisiert, findet bei Cristóbal Halffters "Leyendo a Jorge Guillén" eine weitere Zuspitzung. Das äußerst selten aufgeführte Werk des renommierten spanischen Komponisten denkt die Sprechstimme Schönbergs oder Nonos radikal zu Ende. Wort und Musik stehen hier scheinbar konträr gegeneinander und doch gelingt es Halffter, den emphatisch revolutionären Gestus der "Generation 1927" einzufangen. Die Instrumentierung von Cello (Daniel Gutiérrez) und Viola (Louise Denis-Nesprias) erzeugt eine alles andere als sprachlose Atmosphäre. […]

Nach diesen beiden ambitionieren Versuchen einer "politischen Sprachmusik" schlagen die "Prole do bebê n. 2" (1921) von Heitor Villa-Lobos einen leichteren, spielerischen Ton an. Sergio Pontes verleiht den technisch anspruchvollen Miniaturen ihre rhythmische Prägnanz, setzt gezielte Akzente und überzeugt vor allem durch eine farblich differenzierte Ausgestaltung der breit genutzten Klaviatur.[…]

Im zweiten Teil des abendfüllenden Programms erklangen zwei Werke für Ensemble, die den Rahmen des kammermusikalischen Instrumentariums entscheidend erweitern konnten. Mario Lavistas (*1943) "Marsias" ist eine innovative Komposition für Solo-Oboe und 8 Kristallgläser. Der Satyr Marsyas hatte mit seinem Aulos (eine Art Flöte) gegen den Sänger Apollon im berühmten Wettstreit aus Ovid Metamorphosen triumphiert. Als Belohung wurde er vom eitlen Hüter der Musen bei lebendigem Leibe enthäutet. Dieser Mythos hat die Komponisten immer wieder fasziniert. Lavistas gibt Marsyas eine Oboe, die Diego Villela ähnlich virtuos und biegsam wie der Flussgott zu spielen vermag, aber auch er verliert letztlich gegen den Lichtgott. Zum mysteriösen Melos der Oboe treten im Hintergrund die sphärisch vibrierenden Klänge der 8 gestimmten Kristallgläser hinzu. […]

Einen völlig anderen Ansatz Musik und Wort aufeinander zu beziehen verfolgt hingegen Daniel Amadeo Zimbaldo (*1955) in seinen "Cartas desde el Real Hospital de Lunáticos" (1981-1984). Das Werk für Kammerensemble und elektroakustisches Band verbindet konkret aufgenommene Alltagsgeräusche mit einer postmodernen Musik, die von der unerwarteten Schönheit einer ironischen Ballade bis hin zu einer freien, collagenartigen Strukturierung reicht. Die Dramaturgie des Werkes ähnelt hin und wieder der bildlichen Wirkungsweise von Kino oder Hörbuch. Die postmoderne Idee vom "Anything goes" würde daher auch nur unzureichend der Komposition gerecht werden. Vielmehr gelingt es dem Ensemble Iberoamericana den Text auf einer musikalischen Ebene narrativ und poetisch zu vertiefen. Strukturbrüche, eine pluralistische Stilistik und ein filigraner Umgang mit den Klangfarben der kammermusikalischen Besetzung geben dem Stück eine polyfokale Perspektive, von der aus die wechselnden Arten der Realitätswahrnehmung der Protagonisten aus Camilo José Celas Roman "Mrs. Caldwell habla con su hijo" (1953) an Ausdruck gewinnen und in der Kürze der Komposition doch verständlich werden.

Gerade in diesen beiden letzten Kompositionen konnte sich das intermediale Potential von Musik und Wort - Palabras y Música besonders deutlich offenbaren. Das Lesen, das Schreiben und das auf Sprache gerichtete Hören können schließlich den Ton und den Klang nicht vernehmen, auch wenn uns dieser doch stets in der Wahrnehmung mit anrührt. Sprache ist letztlich wohl kaum weniger von Klanglichkeit durchsetzt, wie Musik ebenso einen kommunikativen Mitteilungscharakter verspüren lässt.

Erst wenn man das ibero-amerikanische Institut verlässt und in die warme Berliner Abendluft eintaucht, mögen diese latenten Interaktionen zwischen Musik und Wort nachwirken. Dann hört man vielleicht die Straßengeräusche, einen Song aus dem Autoradio, den Abendwind und erinnert die eben gehörte Musik. Vielleicht klingt dann auch Chihailafs Vers aus Indómito nach - "es scheint, als lernte ich dort, was Poesie ist."

Quelle: www.klassik.com, von Toni Hildebrandt (21.04.2009)